Wer nach Japan reist, der weiß um die klimatischen und geologischen Bedingungen. Der sehr lieb gewonnene Inselstaat erlebt außerordentlich häufig Erdbeben, da er direkt an der geologischen Bruchstelle von gleich vier tektonischen Platten liegt: der nordamerikanischen, der eurasischen, der philippinischen und der pazifischen, um genau zu sein. Ich las von ca. 3-4 Erdbeben pro Tag, die allerdings in der überwiegenden Mehrheit nicht spürbar verlaufen. Allerdings ist es natürlich nicht unwahrscheinlich, auch mal ein spürbares zu erleben.
Zusätzlich zur permanenten Erdbebenwahrscheinlichkeit herrscht hauptsächlich im September die Taifunsaison. Während meines Aufenthalts zogen noch zwei dieser Wetterereignisse über das Land hinweg: Am Tag meiner Ankunft Taifun Wipha, der mit großen Warnungen angekündigt wurde und auf der Insel Izu auch starke Schäden verursachte, und Taifun Francisco etwa 1,5 Wochen später.
Irgendwie ist es ja auch ein bisschen bizarr: Da ist diese Riesenstadt Tokyo mit 36 Millionen Menschen in der Metropolregion, die auf engstem Raum zusammen leben. Auf engstem Raum, der für Erdbeben prädestiniert ist. Und auch, wenn ich rational weiß, dass höhere Gebäude sogar sicherer sein können, dass in Tokyo nach neuesten Erkenntnissen gebaut wird und die Gebäude aufgrund des Wissens sehr gut gesichert sind – es ist dennoch beängstigend.
Vor allem, wenn man nachts in einem solchen Hochhaus aufwacht, weil es sich bewegt und es hinter der erdbebengesicherten Inneneinrichtung mit Magnettüren scheppert. Vielleicht war das der absurdeste Moment der ganzen bisherigen Reise: der, in dem ich mich halbwach fragte, ob das da gerade ein enormer Sturm aufgrund des vorbei ziehenden Taifuns oder tatsächlich ein Erdbeben ist. (War es, ich war dann relativ schnell sogar sehr wach.) Und ja, es war ein Moment, in dem ich mich fragte, was ich da eigentlich mache. Ja, trotz Wissen um die Gegebenheiten und Bewusstsein für die Möglichkeit, dass während meines Aufenthalts ein Erdbeben stattfinden könnte.
Ich bin ernsthaft immer davon ausgegangen, dass ich in diesem Fall weit souveräner wäre. Weil man um die Rahmenbedingungen weiß, weil man weiß, dass es vermutlich nur ein kleines Beben und schnell vorbei ist. Und weil man weiß, dass Japanreisende ohne Erdbebenerfahrung gern mal panisch werden und man fast arrogant davon ausgeht, dass einem selbst das natürlich nicht passiert. Weil man ruhig bleiben würde, weil alles andere sowieso nicht hilft. Aber das ist, verdammt noch mal, gar nicht so einfach. Das ist sogar überhaupt nicht einfach, zumindest war es das nicht für mich. Ruhig bleiben ist ja immer genau dann am schwesten, wenn man am genauesten weiß, dass man es sollte. Ruhig bleiben liegt mir in solchen Fällen auch einfach nicht.
Es traf mich völlig unvorbereitet und war erst mal einfach verdammt schwer einzuordnen. Weil ich natürlich auch nicht einschätzen konnte, ob das nun ein kleines, normales oder vielleicht doch ein größeres Beben ist. Jegliches Zeitgefühl ging an mir vorbei, wobei ich im Nachhinein las, dass es verhältnismäßig lange auch in Tokyo andauerte. Vielleicht hätte es während des Tages geholfen, zu sehen, dass die Japaner nicht einmal zucken. Vielleicht. Überhaupt: Diese allumfassende Ruhe der Japaner in jeder Hinsicht ist bewundernswert und sicher auch oft vorteilhaft. Egal, ob es um Taifune, Erdbeben oder werweißwas geht: die Informationen werden sachlich zur Kenntnis genommen und dann wird abgewartet.
Apropos Informationen: Vielleicht machte ich hier auch einfach den Fehler, der am Ende zu mehr Zittrigkeit führte als das Erdbeben selbst – ich öffnete heimische Nachrichtenseiten. Und die verkündeten mir, dass es definitiv ein großes Erdbeben war, 7.3 Punkte auf der Richterskala. Natürlich wollte ich Informationen, natürlich dachte auch ich sofort an Fukushima. Dennoch fand ich es unfassbar schwer bis unmöglich, ein objektives Bild zu erhalten: Die deutschen Meldungen erschienen mir enorm dramatisch, die japanischen (anhand der Schilderungen meiner Gastgeberin) erwartungsgemäß enorm zurückhaltend. Auch, wenn man sonst ohne umfassende japanische Sprachkenntnisse gut klar kommt: In diesen Momenten hätte ich mir gewünscht, welche zu haben, um die Nachrichten zumindest vergleichen zu können.
Während jene Nacht für mich persönlich durchaus eine Grenzerfahrung war, schlief meine Gastgeberin natürlich durch. Und lachte mich morgens charmant ein bisschen aus. Sie scherzte gar, dass ich mir ja eine gute, da ereignisreiche Reisezeit ausgesucht hatte, mit gleich zwei Taifunen und einem Erdbeben. Naja. Immerhin fand ich dann auch heraus, dass das Beben in Tokyo selbst zwar kein kleines war, aber auch keines, das alarmierend genug gewesen wäre, um die installierte Warnanlage auszulösen.
Natürlich war mir meine Angst und Zittrigkeit gegenüber meiner Gastgeberin irgendwie auch unangenehm, jedoch nicht unbedingt peinlich, wobei ich durchaus gern so souverän gewesen wäre, wie ich es vorher von mir annahm. Aber woher soll eine potentielle Fähigkeit zur Einschätzung auch kommen? Natürlich bin ich solche geologischen Ereignisse nicht gewöhnt (glücklicherweise) und natürlich reagiert der Körper da erstmal mit lustigen Warnsignalen, weil das einfach eine vollständig ungewohnte Situation ist. Und wenn ich mir vorstelle, dass das Epizentrum knapp 500 km entfernt war und in Tokyo immer noch alles deutlich spürbar bebte, dann wird mir nach wie vor etwas anders. Natürlich weiß man grundsätzlich um die unwahrscheinliche Kraft der Natur, aber sie so zu erleben (sogar ja nur sehr abgeschwächt aufgrund der Entfernung), das ist noch mal etwas ganz anderes und man bekommt umso mehr Respekt vor ihr. Noch deutlich mehr, als sowieso schon.
Vermutlich gewöhnt man sich an Erdbeben, wenn man in Japan wohnt. Natürlich gewöhnt man sich dran. Auch, wenn ich persönlich mich an so etwas zugegeben lieber nicht gewöhnen möchte. (Nicht repräsentativen Angaben zufolge dauert das erste Durchschlafen eines Erdbebens dieser Kategorie für Europäer übrigens um die zehn Jahre. ;))
In mir war zum Ende des Tokyo-Aufenthalts daher auch alles so gegensätzlich wie die Stadt selbst: Ich liebe diese Metropole in all ihrer atemberaubenden Dynamik bei gleichzeitig unglaublicher Ruhe und Gelassenheit ihrer Bewohner. Ich liebe die Labyrinthe der Straßen, auch wenn sie mich zur Verzweiflung bringen. Die Stadt ist eine Herausforderung, ebenso sind es die klimatischen und geologischen Bedingungen, wenn man sie zum ersten Mal erlebt. Tokyo ist einzigartig und die spannendste Stadt, die ich je besuchte. Und natürlich bin ich dankbar, dort gewesen sein zu können. Einerseits hätte ich noch ewig bleiben können, andererseits freute sich aber auch ein kleiner Teil von mir auf die Weiterreise und eine Zeit ohne stetige Erdbeben- und Taifungefahr. Obwohl es mir schwer fiel, lernte ich durchaus, zumindest etwas ruhiger zu bleiben und das ist gut. Unaufgeregt(er) sein hilft. Das wäre vielleicht auch für die Berichterstattung mitunter durchaus wünschenswert.